01.09.2021
Hinkende Nachhaltigkeit schadet der Umwelt
Liebe Leserin, lieber Leser
Nachhaltige Entwicklung ist weltweit ein zentrales Ziel dieses Jahrzehnts. So hat es die UNO in ihren Zielen der nachhaltigen Entwicklung formuliert. Die Agenda 2030 umfasst 17 Nachhaltigkeitsziele. Der Ansatz ist umfassend. Umweltziele sind eingebettet in sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungszielen. Und die Agenda der UNO ist getragen von der Erkenntnis, dass es zur Erreichung von Nachhaltigkeit Partnerschaften und Zusammenarbeit braucht. Die UNO erklärt ihre Entwicklungsziele so: «They recognize that ending poverty and other deprivations must go hand-in-hand with strategies that improve health and education, reduce inequality, and spur economic growth – all while tackling climate change and working to preserve our oceans and forests.» Dieser ganzheitliche Ansatz ist sehr weise. Mit Hunger, kriegerischen Konflikten und fehlender wirtschaftlicher Prosperität gibt es keine Nachhaltigkeit.
In der medialen Diskussion um Nachhaltigkeit in der Schweiz bekommt man mitunter den Eindruck, dass Nachhaltigkeit nur auf dem Umwelt-Bein steht. Es geht nur darum, Chemie aus dem Leben zu verbannen und zur Natur zurückzukehren. Die Auswirkungen auf die sozialen und wirtschaftlichen Standbeine werden bei dieser hinkenden Nachhaltigkeit grosszügig verdrängt. Aber nicht einmal die Umweltdimension wird umfassend berücksichtigt. So ist das Bundesamt für Landwirtschaft zwar bestrebt, dass die Schweiz im Einklang mit den Zielen der nachhaltigen Entwicklung der UNO steht. Ein Beispiel dafür ist die Bekämpfung von Food Waste, dem Schätzungen zufolge 2,8 Mio. Tonnen Lebensmittel pro Jahr zum Opfer fallen. Der BLW-Direktor schreibt im jüngsten Newsletter des Amtes, dass die Lebensmittelverschwendung in der Schweiz deutlich reduziert werden soll. Das tönt gut, allerdings fördert unser Land mit Direktzahlungen auch unproduktive Produktion, die zu «Food loss» auf dem Acker oder Verfaulen im Lager führt. Von einer umfassenden Nachhaltigkeit ist unsere Landwirtschaftspolitik deshalb noch weit entfernt. Hinkende Nachhaltigkeit aber ist bequemer – und man fühlt sich erst noch gut dabei.
Die Realitätsverweigerung wird genährt durch allzu simple Werbe- und PR-Kampagnen. Für den Einzelnen mag es zwar befriedigend sein, wenn sie bzw. er sich auf der Seite der Guten wähnt. Wenn das Gutgemeinte allerdings den Kurs der Politik bestimmt, wird es problematischer. Hinkende Nachhaltigkeit kann zu einer Verschleuderung von Ressourcen führen. Wenn Landwirte ihre Kulturen im nassen Sommer 2021 nicht mit Pflanzenschutzmitteln geschützt haben, haben sie womöglich alles verloren. Genau da zeigt sich der Charakter der hinkenden Nachhaltigkeit. «Food loss» auf dem Feld ist Ressourcenverschwendung und überhaupt nicht nachhaltig. Ohne Ertrag macht der Input von Ressourcen in die landwirtschaftliche Produktion nicht nur keinen Sinn, die Verschwendung kostet und schadet der Umwelt. Markus Röser, Leiter Kommunikation Nachhaltigkeit von BASF, formuliert es so: «Es gilt also, die richtige Balance zu finden zwischen Produktion einerseits und Klima- und Umweltschutz andererseits. Hierfür kommt neben Landwirten und Politik auch der Agrarindustrie eine wichtige Rolle zu. Die forschende Industrie investiert in innovative Pflanzenschutz- und Saatgutlösungen, Züchtungstechnologien oder digitale Tools. Hinzu kommt das Engagement für Massnahmen zur Förderung von Biodiversität, die in die jeweilige landwirtschaftliche Praxis integriert werden.»
Kürzlich ist die Vernehmlassungsfrist zur parlamentarischen Initiative «19.475 Risiko beim Einsatz von Pestiziden reduzieren» abgelaufen. Sie war vom Parlament als inoffizieller Gegenvorschlag zu den Agrar-Initiativen konzipiert worden. Die Industrie hat von Anfang an vor einer alternativlosen Verbannung von Pflanzenschutzmitteln aus der regionalen Landwirtschaft gewarnt. Denn ohne Pflanzenschutzmittel sind Erträge gefährdet. Es kann nicht darum gehen, chemische Stoffe um jeden Preis aus der Landwirtschaft zu verbannen, sondern es geht vielmehr darum, in sorgfältiger Abwägung das Risiko jedes einzelnen Mittels bei dessen konkreter Anwendung zu prüfen – und nur bei tatsächlichen Risiken Stoffe aus dem Verkehr zu nehmen. Die parlamentarische Initiative geht leider mit ihrer unwissenschaftlichen Gleichbehandlung von relevanten und nicht-relevanten Metaboliten (Abbauprodukten) den falschen Weg. Sie begibt sich auf den Pfad von «zero risk». Das ist lebensfremd und unrealistisch. Wer würde schon im Strassenverkehr nicht-relevante Vorkommnisse zur Anzeige bringen?
Agrarunternehmen und Industrie haben ihre Kritik am inoffiziellen Gegenvorschlag des Parlaments schon vor der Abstimmung über die Agrarinitiativen deutlich gemacht. Erstaunlich ist, dass dies einen NZZ-Redaktor nicht daran hindert, in einem Anflug von Thesenjournalismus das Gegenteil zu behaupten. Doch die Unterstellung des flinken Meinungswechsels nach der Abstimmung ist falsch. Richtig ist: Mit der undifferenzierten Vorlage wird der Gesundheitsschutz ad absurdum geführt. Die Grenzwerte der parlamentarischen Initiative für Grundwasser sind mit ihr schärfer als die Anforderungen ans Trinkwasser gemäss Lebensmittelgesetz. Das ist nicht nur absurd. Es hat für die Schweizer Landwirtschaft massive Konsequenzen. Wichtige Tools für den Schutz der regionalen Kulturen werden ihr aus der Hand geschlagen. Aufgrund der absurd tiefen Grenzwerte für Abbauprodukte, die nachweislich weder der Umwelt noch der menschlichen Gesundheit schaden, würden wohl bis zu 80 Prozent der heute verfügbaren Pflanzenschutzmittel verboten werden oder nicht zugelassen. Das ist für die inländische Versorgung – wie der aktuelle Sommer mit Kälte und Nässe demonstriert – schlicht und einfach eine Katastrophe. Die Importe steigen – wenn denn Importe überhaupt möglich sind. Denn Wetterunbill kennt keine Landesgrenzen. Zudem: Die hinkende Nachhaltigkeit führt zu Ressourcenverschleiss und schadet der Umwelt.
Hinkende Nachhaltigkeit bestimmt auch die Diskussion um die Anwendung von Gentechnologie in der Landwirtschaft. Das Gentech-Moratorium soll in der Schweiz um weitere vier Jahre verlängert werden. Das hat der Bundesrat Ende Juni bekanntgegeben. Vom Moratorium betroffen sind auch neue Züchtungsmethoden wie die Genom-Editierung. Obwohl sie einen entscheidenden Beitrag zu einer umweltfreundlicheren Landwirtschaft leisten könnten. Verliererinnen sind Umwelt und Wissenschaft. Die Weltwoche hat die Konsequenzen kürzlich aufgezeigt.
Wenn es um Gentechnik in der Landwirtschaft geht, greifen die Gegner jeweils zur simplen Keule. Die Konsumentinnen und Konsumenten wollten das nicht, heisst es dann. Doch Studien von Angela Bearth von der ETH Zürich zeigen, dass dies nicht stimmt. Sehen Konsumentinnen und Konsumenten einen konkreten Nutzen, sind sie sehr wohl für den Einsatz von genom-editierten Pflanzen. «Es sind viele neue, präzisere Werkzeuge entstanden, die so genannte Genom-Editierung. Die Gesetzgebung differenziert nicht und unterstellt auch die neuen Werkzeuge dem Moratorium. Die Bevölkerung scheint dies differenzierter zu sehen: Neuere Studien zeigen eine Offenheit der Bevölkerung gegenüber dem Einsatz von Genom-Editierung in der Pflanzenzüchtung», schreibt die Forscherin.
Die Vorteile von resistenten Züchtungen sind offensichtlich. Verfügen Kulturpflanzen über Abwehrkräfte gegen Pflanzenkrankheiten, dann braucht es weniger Pflanzenschutzmittel. Schädlinge und Pflanzenkrankheiten bereiten beispielsweise im Obstbau grosse Probleme. Besonders im Apfelanbau hat die Züchtung resistenter Sorten deshalb oberste Priorität. Deshalb spricht sich auch ein Ostschweizer Apfelzüchter für die Abschaffung des Gentech-Moratoriums aus. Die Genschere CRISPR/Cas9 erlaubt auch die Züchtung von gegen Kraut- und Knollenfäule resistenten Kartoffelsorten. Sicher ist: Nur mit neuen Technologien lässt sich die wachsende Weltbevölkerung ernähren. Ohne Innovation sind bereits die ersten beiden Entwicklungsziele der UNO «no poverty» und «no hunger» infrage gestellt. Wenn militante Gegner von Pflanzenschutzmitteln auch noch die Genom-Editierung blockieren wollen, dann offenbart sich ihre Perspektivlosigkeit. Es geht nicht um Lösungen, sondern nur um reine Verhinderungspolitik.
Insgesamt muss gemäss dem «European Food Trends Report» des Gottlieb Duttweiler Instituts (GDI) unsere gegenwärtige Ernährungsweise bald der Vergangenheit angehören. Zur Deckung des globalen Konsums sind derzeit 1,75 Planeten nötig. Ein Schweizer Konsument benötigt sogar 2,85 Erden. Gleichzeitig wächst die Weltbevölkerung gemäss Prognosen der EU bis 2050 auf 10 Milliarden Menschen. Der Report zeigt, was das für Konsequenzen für Landwirtschaft und Ernährung hat. David Bosshart, GDI-Executive Advisor, verweist auf die gezielte Züchtung mit Genom-Editierung. Gleichzeitig werden wir, um nachhaltige Lebensmittel zu produzieren, in Zukunft vermehrt auf das Labor angewiesen sein. Dies gilt beispielsweise bei der Produktion von künstlichem Fleisch. Im Marketing gern eingesetzter Bauernromantik erteilt der Report eine Abfuhr.
Ende Mai 2021 hat der Bundesrat die Verhandlungen mit der EU zum Rahmenabkommen abgebrochen. Bislang ist vor allem die Wissenschaft vom Entscheid betroffen. Schweizer Forscher verlieren den Zugang zu «Horizon Europe», dem weltweit grössten Fördertopf für Wissenschaftler. Die Kritik am Abbruch der Verhandlungen ist aus Sicht der Forschenden verständlich. Doch die Schweiz hat es auch selbst in der Hand, attraktive neue Forschungsfelder zu ermöglichen, statt zu blockieren. Dies ist insbesondere bei der Grünen Gentechnik der Fall. Das seit Jahren bestehende Gentech-Moratorium ist ebenfalls eine «Lost Chance». Nicht nur die unsichere Zukunft des Zugangs unserer Wissenschaftler zum Forschungsprogramm Horizon Europe, sondern auch Moratorien beschädigen Forscherkarrieren.
Wenn sich Anfang September die zuständige Nationalratskommission über die Erweiterung des Gentech-Moratoriums auf gezielte Züchtungen mit Genom-Editierung beugt, ist unbedingt eine umfassende Nachhaltigkeitssicht vonnöten. Die hinkende Nachhaltigkeit führt die Schweiz und ihre Landwirtschaft in eine Sackgasse. Mit Bezug auf die breiten Nachhaltigkeitsziele der UNO ist die Verweigerungshaltung auch kurzsichtig: Umfassende Nachhaltigkeit schätzt nebst den inhärenten Risiken der Technologien auch die Risiken ein, wenn die Technologien nicht angewendet werden.
Ihre swiss-food-Redaktion